Receptive Perception

Text: Paula Watzl
Fotos: Cati Donner
Video: Felix Stekl, Bernadette Meisel

Mit Blick und Stift tastet Franziska King (*1980, Omegna/IT) Körper ab, ihre Oberfläche und ihre Tiefe. Die durchschnittliche Körperoberfläche eines Erwachsenen beträgt 1,73 Quadratmeter: ein unerschöpflicher Fundus, den King nicht einfach kartiert, sondern dem sie „zuhört“ – ein Widmen, das über das reine Vermessen hinausgeht. Nicht das Modell stehe ihr zur Verfügung, sondern sie dem Modell, erklärt die Künstlerin. Ihr Fokus fällt auf Details – nicht auf das große, glatte Bild. Die Aufzeichnungen folgen der Aufmerksamkeit. Ähnlich funktioniert unser Erinnern.

Es gibt keine verlässliche Zahl für die Menge menschlicher Erinnerungen, doch wäre sie messbar, läge sie wohl im Millionenbereich. Ein Versuch, diesem immateriellen Schatz habhaft zu werden, ist die Fotografie. Gegenwärtig macht ein Mensch rund 20 Fotos am Tag, das ergibt 584.000 Fotos im Leben. Früher war dies ausgewählter, doch das Bedürfnis war immer dasselbe: die besonderen Momente festzuhalten, eine Erzählung für die Nachwelt zu formulieren, die erinnert werden soll. Doch, wie King beobachtet, wiederholen sich die Sujets – Bilder in der Sonne, von Festen, von Paaren und sich nahestehenden Gruppen.

Ein anonymes Fotoalbum, das ihr in die Hände fiel, wurde für King Ausgangspunkt. Persönliche Geschichten, die ihren persönlichen Bezug verloren haben. Mit Pastellkreide schenkt King ihnen eine neue Gegenwart. Gezeichnet auf Stoffen, die in der Ausstellung „Receptive Perception“ im Viadukt wie Erinnerungen selbst schweben – beweglich, flüchtig. Ausschnitte aus den Fotos tauchen als Siebdruck-Flächen auf, geben der Wahrnehmung einen Takt vor, ohne sie einzuengen. Flankiert werden die Textilfahnen von Cyanotypien eines Schädelröntgens. Der Körper als Zentrum von Erinnerung und Sein – mit dem Kopf als Schaltstelle, nicht nur wissenschaftlich, auch sinnlich.

Die Siebdrucke erweitern diese blauen Blätter. Mit Hilfe dieser Technik wagt sich die Künstlerin in die Fläche. Der Siebdruck wurde ihr zum Werkzeug auf der Suche nach Formen, die anregende Empfindungen gleichzeitig abbilden und neu auslösen. Es entsteht ein ständiges Wechselspiel. Kings Kunst lebt von dem, was die Außenwelt ihr anbietet – Geschmäcker, Formen, Farben, Zitate, Erinnerungen. Dort, wo Sinne aktiviert werden, versucht ihre Kunst das Potenzial zu vervielfachen, greifbar zu machen, Schönheit auszukosten.

Auch der Siebdruck selbst wird bei Franziska King zum stetigen Prozess. Dort, wo Farbverläufe brechen, Strukturen unerwartet in die Fläche greifen, erkennt sie keinen Fehler, sondern Impulse für neue Denkrichtungen. Der Siebdruck wird zur Komplizin einer offenen, forschenden Praxis.

Kunst – oder genauer gesagt ihre große Schwester, die Kultur – ist immer auch eine Form des gemeinsamen Erinnerns. Das hat etwa die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann präzise herausgearbeitet und festgehalten, dass Erinnerung keine rein individuelle Leistung ist, sondern ein soziales Konstrukt, das auf Kommunikation und Austausch beruht.

Genau hier setzt Franziska King an: Sie öffnet ihre Kunst bewusst für den Dialog. Ihre Arbeiten entstehen nicht isoliert und sie sind auch nicht abgeschlossen, sondern leben vom Netzwerken – erst durch ein Gegenüber, durch Betrachter:innen, werden sie vollständig.

Franziska King lebt und arbeitet in Wien und Paris. Sie studierte Malerei und Grafik sowie angewandte Kultur- und Kunstwissenschaften an der Kunstuniversität Linz, wo sie auch als Tutorin für Lithografie tätig war, und vertiefte ihre Ausbildung an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Neben Ausstellungen in Österreich (z. B. im Rahmen der Vienna Art Week) und Deutschland (Gallery Weekend Berlin) sowie Israel und den USA erhielt sie mehrfach Stipendien, etwa von der Stadt Wien und der Stadt Linz. 2024 wurde sie als Artist in Residence im Viadukt ausgewählt, wo sie im Rahmen einer Jahresresidenz neue Wege erkundet, dem Siebdruck malerische Qualitäten abzugewinnen

Receptive Perception

Text: Paula Watzl
Photos: Cati Donner
Video: Felix Stekl, Bernadette Meisel

Franziska King (*1980, Omegna/IT) draws with her eyes and her hand—tracing bodies, not only across the skin, but deep into their presence. The human body covers, on average, 1.73 square meters: a surface of endless potential. King doesn’t simply map this space—she listens to it. Her approach is one of attentiveness, of presence. As she puts it, it’s not the model that is at her disposal, but rather she who offers herself to the model. Her gaze lingers on the overlooked, the fragmentary, the intimate—far from the polished image. Her drawings follow attention like memory does: associative, selective, unpredictable.

We don’t know how many memories a person can store, but the number likely lies in the millions. One way to capture what is otherwise immaterial is photography. Today, we take around 20 photos a day—adding up to over half a million in a lifetime. Earlier, photographs were more carefully chosen, but the impulse remains: to preserve the fleeting, to create stories that outlive us. Yet, as King observes, the motifs repeat: sunlight, celebrations, couples, circles of closeness.

An anonymous photo album—disconnected from its original owners—became King’s point of entry. These are private images that have lost their personal context. With pastel chalk, she gives them a renewed present. Drawn on fabric, her works float through the exhibition Receptive Perception like memory itself—weightless, impermanent, shifting. Excerpts of the photographs reappear as screen-printed fields, offering rhythm without restricting perception. The textile banners are flanked by cyanotypes of skull X-rays—reminders that the body, and especially the head, is both the archive and engine of memory, both anatomically and sensually.

Silkscreen, for King, becomes more than technique—it is a conceptual partner. Through it, she explores how visual forms can hold and spark sensation at once. The printed image opens up painterly space. Where color breaks or textures spread unpredictably, King sees not flaws but openings—moments of aesthetic insight. Screen printing becomes a method of inquiry, a practice of open-ended making.

King’s art feeds on the world: its tastes, shapes, hues, cultural traces. Where the senses are stirred, she multiplies the effect—making perception tangible, and beauty something to linger with. Her works emerge not in isolation but in relation. Only through exchange—with viewers, with space, with memory—do they fully unfold.

Art, or more precisely its broader cultural dimension, is always a form of collective remembrance. Cultural theorist Aleida Assmann has argued that memory is not merely personal, but social: something shaped through dialogue, ritual, and shared meaning.

This is where King’s work finds its grounding. She invites conversation. Her practice is not about finishing something, but opening it—about creating a space where memory, perception, and encounter can resonate together.

Franziska King lives and works in Vienna and Paris. She studied painting, printmaking, and applied cultural and art theory at the University of Art and Design Linz, where she also taught lithography. She continued her studies at the Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem. Her work has been exhibited in Austria (including Vienna Art Week), Germany (Gallery Weekend Berlin), Israel, and the USA, and she has received various grants from the cities of Vienna and Linz. In 2024, she was selected as Artist in Residence at Viadukt, where she is now exploring how silkscreen can unfold painterly potential within an extended, year-long process.

EXHIBITION